Stell dir vor: du gehst jeden Abend (außer dienstags) 300 Stufen in einen Kirchturm, um 3 Stunden lang halbstündlich in ein Horn zu blasen. Stell dir vor, du beschützt damit eine ganze Stadt vor Feuer und Feinden. Stell dir vor, das macht eine Frau und sie ist die erste seit 1383.
Die Rede ist von der Türmerin Münsters, genauer gesagt von Martje Saljé. Sie ist die Frau auf dem Turm der Lambertikirche in Münster und hat den Job mit dem besten Ausblick der Welt. “Am schönsten ist es, wenn der Himmel blau ist”, verrät sie mir mit strahlenden Augen, “dann habe ich einen traumhaften Blick auf den Sonnenuntergang. “Aber auch bei Gewitter, wenn sich die Blitze am Horizont entladen und ich das von hier oben beobachten kann, ist das einfach unglaublich faszinierend”, schwärmt sie.
Überhaupt habe ich das Gefühl, dass sie ihren Job von Herzen liebt. Türmerin wird man eben nicht einfach so. Es ist ein Traditionsberuf. Und ganz gewiss keine Touristenattraktion, aber dafür die Bewahrung eines jahrhundertealten Brauchtums.
Es ist Donnerstagabend um kurz vor 21 Uhr, als wir uns mit Martje vor ihrer Türmertür treffen.
Mit Begeisterung führt sie uns die steile und enge Wendeltreppe mit 300 Stufen hoch. Schwindelfrei muss man hier sein. Und Platzangst sollte man auch keine haben. Ich war schon nach 100 Stufen leicht aus der Puste und das, obwohl ich eigentlich ganz fit bin. Sie macht das jeden Tag. Und auch ihr Vorgänger, der mit 70 Jahren in Rente gegangen ist. Ein besseres Fitnessprogramm kann es vermutlich gar nicht geben.
Die Tradition gibt es bereits seit 1383. Seit dem 14. Jahrhundert gibt es also immer mindestens eine Person, die die Aufgabe hat, Münster vor Feinden und Feuer zu bewachen. Es ist eines der ältesten Ämter Europas. Das Amt ist städtisch, nicht kirchlich. Und ihr Arbeitgeber, das Münster Marketing. Martje ist nach 631 Jahren die erste Frau in der Männerdomaine. Ihr Vorgänger, Wolfram Schulze, ging nach 20 Jahren im Alter von 70 Jahren in Rente. Heute mit knapp 75 Jahren flitzt er immer noch zu Fuß durch die Stadt wie ein junger Hüpfer, verrät Martje mir. Eigentlich wollte er gar nicht aufhören, nach drei Vertragsverlängerungen ging jedoch kein Weg mehr dran vorbei.
Nach einer Weile kommen wir etwa auf halber Höhe der Lambertikirche an, da wo die großen Eisenkäfige, die sog. Täuferkörbe (umgangssprachlich “Wiedertäuferkörbe”), außen hängen. An diese kann ich mich seit meinem ersten Besuch der Münster Innenstadt erinnern. Sie sollten damals als Mahnmal dienen, heute gehören sie zu Münster irgendwie dazu und sind auch eine Sehenswürdigkeit. Im Jahr 1536 wurden darin nach der Hinrichtung der drei Täufer ihre Leichname als Abschreckung aufgehangen. Sie wurden nie entfernt.
Ein paar Stufen unter uns ist der Glockenstuhl von St. Lamberti mit acht Kirchenglocken. Auf der Ebene der Täuferkörbe jedoch befindet sich die Rats- und Brandglocke, die nicht der Kirche gehört, sondern der Stadt Münster. Heutzutage wird sie noch zur Kommunalwahl bei der Oberbürgermeistervereidigung von der städtischen Türmerin geschlagen.
Nach insgesamt 300 Stufen sind wir schließlich am Ziel: die Türmerstube! Martje führt uns in ihr kleines Büro. Auf dem Tisch stehen Schokolade, Plätzchen und ein paar Getränke. Ihr Schreibtisch ist eingerahmt von Regalen mit Büchern über Münsters Geschichte, an den Wänden hängen ein paar Bilder. Irgendwie urig und gemütlich.
Der schönste Ausblick über Münster
Hier auf der Höhe ihres Büros kann man den Kirchturm komplett umrunden und hat einen unglaublichen Blick in alle Richtungen. Wir fühlen uns auf Anhieb wohl, auch wenn wir gleich mit ihr weiter im oberen Teil des Kirchturms, der über eine weitere kleine Treppe zu erreichen ist, verschwinden. Die Aussicht von dort oben ist noch besser und wir können gar nicht aufhören Fotos zu machen.
Nach einer Weile klingelt ihr Smartphone. Kein Anruf, sondern der Alarm. Es ist 21 Uhr, Zeit in das Horn zu blasen. Das macht sie in alle drei Himmelsrichtungen (Osten wird traditionell ausgelassen) und schaut, ob tatsächlich nirgendwo Feuer und Feinde zu sehen sind. Das macht Martje halbstündlich bis 24 Uhr, dann hat sie Feierabend. Es ist ein Teilzeitjob. Zwar kann sie in den Urlaub gehen, dafür kommt dann eine Vertretung, der Beruf der Tümerin kennt aber keine Geburtstage, keine Feiertage und auch kein Weihnachten. Jeden Tag, egal wann, geht es nach ganz oben.
Ein bisschen Spaß muss sein…
Weiter hoch durften wir leider nicht, zu gefährlich, sagt die Feuerwehr:
Mich fasziniert das. Und Robert findet auch Gefallen. Wir können gar nicht aufhören, im und um den Kirchturm herum zu laufen, Martje Fragen zu stellen und das alles zu bestaunen. Irgendwann setzen wir uns zu ihr ins Büro, essen Schokolade, trinken Limonade, quatschen mir ihr über Gott und die Welt und tragen uns in ihr Gästebuch ein. Irgendwie gemütlich hier oben, auch wenn es kalt, feucht und irgendwie einsam ist, kann ich mir vorstellen, dass man diese Berufung lieben kann.
Bis 23 Uhr bleiben wir oben. “Ihr geht einfach die Wendeltreppe ganz runter. Ich traue euch zu, dass ihr das alleine schafft. Falls nicht, kommt ihr einfach wieder hoch”, lacht uns die liebe Martje ein letztes Mal an. Wir machen uns dann auf dem Weg. In 300 Stufen geht es wieder runter. Noch die große schwere Holztür öffnen und dann stehen wir mitten in der Nacht auf dem dunklen Prinzipalmarkt, als wäre nichts gewesen. Waren wir wirklich gerade da oben?
Martje bloggt – und zwar über ihre Geschichten als Türmerin. Schaut mal hier vorbei oder auch auf ihrer Facebook-Seite.
Bitte beachten: Eine Turmbesichtigung ist normalerweise nicht möglich. Ein Besuch der Türmerin Münsters war für mich nur durch die Einladung des Münster Marketings möglich.
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Ich wurde von der Stadt Münster eingeladen. Vielen Dank für dieses einzigartige Erlebnis.
4 Kommentare
Dein Bericht gefällt mir ganz hervorragend, liebe Simone, und schöne Fotos untermauern dein Gesagtes. Dass Robert das schwer beeindruckt hat, glaube ich sofort!
Gestern erhielt ich zwar schon deine Wolkenweit-Ankündigung, aber meine sofortige Vorfreude konnte sich noch nicht ausleben: der Bericht war leer!…und ich bedauerte, keinen Weg gefunden zu haben, dir dies sicher Ungeplante zurückzumelden.
Nun hatte ich nur bis heute Morgen zu warten, um eben mit ganz viel Genuss MÜNSTER aus ‘meinem Abseitsstübschen’ herauszuholen. Ich werde deinen Bericht an Freunde weiterleiten….und dann: grüß mir – sicher mit Käse und Harribos gut neu bevorratet – beim Heimkommen La Diege, auf der ich mich – auch Dank deiner Hilfe- ‘dem Paradies so (haut)nah’ fühlte, auf’s herzlichste! Bis bald mal wieder!
In Vorfreude grüßt dich Claudia
Hi Claudia,
danke für deinen schönen Kommentar. Das freut mich. Das ist ja eine merkwürdige Sache mit dem Bericht. Davon habe ich gar nichts mitbekommt, hat mir sonst auch niemand gesagt. Umso besser, dass jetzt alles gut ist. Ich wünsche Dir ein schönes Wochenende. Bis bald & liebste Grüße, Simone
Hervorragender Bericht, der viele viele Menschen – mich ganz besonders – neidisch macht. Nur zu gerne würde auch ich einmal unserer Türmerin einen Besuch abstatten! Aber es sei Dir gegönnt!
Dankeschön, ja, das war wirklich ein Highlight und das werde ich nie vergessen. Die Martje ist auch total lieb! Liebe Grüße!